04.04.2013, Tages-Anzeiger
Wer Times Square und Empire State Building abgehakt hat, kann sich dem entspannten Leben in Bars, Cafés und Läden hingeben.
Von Stephanie Rebonati, New York
Foto: Matthew Williams
Cervantes Ramirez ist 36 Jahre alt, was man ihm aber nicht ansieht. Er schmunzelt wie ein kleiner Junge und spricht ganz leise. Er stammt aus der Dominikanischen Republik, die er 1997 verliess, um sich in New York niederzulassen. Er jobbte in einer Wäscherei, bei McDonald’s und beim Buchhändler Barnes & Noble. Dazwischen surfte er zwei Jahre auf Hawaii und war dort als Landschaftsgärtner tätig. «Ursprünglich kam ich als Maler nach New York», sagt er, «aber die Gastronomie hat mich gepackt.»
Er sitzt im Café Select in Soho. Vor einigen Jahren kellnerte er auch hier, in der Schweizer Beiz New Yorks, die Rivella und Caotina serviert und an der Wand Bernhard Russi und Max Frisch hängen hat. Was nur Schweizer auf den ersten Blick erkennen, ist der gelbe PTT-Briefkasten neben der Eingangstür. Wirt Oliver Stumm, in einschlägigen Kreisen als DJ und Musikproduzent seines Labels A Touch of Class bekannt, wuchs in Zürich auf. Seit letztem Jahr führt Ramirez die kleine Austernbar im Hinterzimmer des Cafés. Sie trägt seinen Namen: Cervantes’ Oyster Shack & Bar.
Ist er nicht hier, mixt er im New Yorker Untergrund pikante Drinks. Seit zwölf Jahren ist er Barkeeper im Little Branch, einer Cocktailbar im Westen Manhattans, die mit ihren dunklen Gängen und den Männern mit Hosenträgern und Saxofonen an die Flüsterkneipen der Dreissiger erinnert. Sonntag bis Donnerstag wird ab 23 Uhr Livejazz gespielt, klassisch bis brasilianisch. Die Musiker schwitzen durch die weissen Hemden, die Paare stecken im Séparée die Köpfe zusammen, und der Scotch und die Limette tanzen im Cocktailglas.
Was macht New York aus? Ramirez’ Blick schweift durch das gut besuchte Café Select. An der Bar sitzt eine junge Frau mit dunklen Locken und langen Beinen, sie kritzelt in ein Notizheft; am Nebentisch diskutieren Männer in schweren Stiefeln über eine Ausstellung. «Die Leute machen diese Stadt aus», sagt Ramirez, «sie kommen von überall her, sammeln Erfahrungen und setzen Ideen um.» Wie er einst. New York City ist ein Potpourri, Auffangbecken und Spielplatz, und genau deshalb ist diese Stadt einen Besuch wert.
Frittierter Tofu, echte Solidarität
In New York geht es um drei Dinge: Global Cuisine, pikante Cocktails und apartes Handwerk - am besten aus Nischenlokalen und -läden. Beginnen wir an der Elizabeth Street im Stadtteil Nolita (kurz für North of Little Italy). Am nördlichen Ende der einspurigen Strasse wird bei Love Adorned Indie-inspiriertes Handwerk feilgeboten. Türkistropfen baumeln von goldenen Kreolen, Hundeleinen sind mit Perlenkunst versehen, handgewobene Schals aus nepalesischem Kaschmir hängen von Holzleitern.
Ein paar Gehminuten südlich kreuzt sich die Elizabeth Street mit der Prince Street. Hier befindet sich das Café Habana. In diesem eng bestuhlten Taco-Restaurant drehte Lenny Kravitz 2000 den Videoclip zu seiner Ballade «Again», für die er den Grammy für die beste männliche Rockdarbietung gewann. Auch eine Szene in «Freunde mit gewissen Vorzügen», einer Hollywoodromanze mit Justin Timberlake, spielt in diesem unprätentiösen Ecklokal.
Trotz dieser kommerziellen Verknüpfungen ist das Café Habana ein Quartierlokal geblieben, in dem lateinamerikanischer Rap verzerrt aus alten Boxen dröhnt und Shrimp-Tacos mit Reis, Bohnen und giftgrüner Salsa für unter 10 Dollar serviert werden.
Südlich davon gibt es bei Lovely Day frittierten Tofu an Chilisauce für 5 Dollar. Der Boden ist hier farbig gekachelt, die Stühle sind mit rotem Plastik überzogen, und die Wände tun sich mit einer Blumentapete hervor. Nach Hurrikan Sandy war Lovely Day lange das einzige offene Restaurant an der Elizabeth Street. Nicht im üblichen Modus, sondern als Helfer in der Not. Heisser Kaffee wurde frierenden Nachbarn gratis ausgeschenkt. «Nach 9/11 haben wir New Yorker gelernt, füreinander zu sorgen», sagte Mark damals, ein junger Mann, der bei Kerzenschein stundenlang Kaffeebohnen mahlte und nachts mit einer Stirnlampe über die Brooklyn Bridge nach Hause lief.
Auch Caroline Fidanza ist in Brooklyn daheim, wo sie die Gastronomieszene seit über 15 Jahren mitprägt. Vier Restaurants, die Kultstatus geniessen, hat sie in dieser Zeit eröffnet. Jüngst den Sandwich-Shop Saltie in Williamsburg inklusive Kochbuch. «Essen ist zur angesagtesten Form der Unterhaltung avanciert», sagt Fidanza und nennt New York eine «Food-besessene Stadt». Was die Sandwichs von Saltie derart beliebt machen: «Die Balance stimmt; sie sind sämig, knackig und perfekt gewürzt», sagt die 45-jährige Chefköchin. Sie hat recht. Unbedingt probieren: das Sandwich Clean Slate mit Humus, Koriander, Fenchel und Rande.
Die Perlen von Chinatown
Weiter südlich in Brooklyn, im Prospect Park, trifft man jeden Morgen auf Scarlett Boulting und Heathcliff. Der Pitbull Heathcliff, schwer verliebt, trifft dort seine angebetete Artgenossin Zelda, der Grossstadtdschungel wird dabei zum kleinen tierischen Liebesnest. Danach geht Boulting mit ihrem Vierbeiner ins Atelier. Die 29-Jährige führt zusammen mit Freunden die Non-Profit-Galerie Primetime, entwirft unter dem Label Opus Kinderkleider, die zu 100 Prozent in New York produziert werden, und vertritt den Zürcher Kunstbuchverlag Edition Patrick Frey an den Kunstbuchmessen in New York und Los Angeles.
Scarlett Boulting wurde in Manhattan geboren, wuchs in Miami auf, lebte nach dem Studium in Paris und ist heute zurück in New York. Warum? «New York hat eine hohe Konzentration von motivierten, gut ausgebildeten und interessanten Leuten», sagt die studierte Modedesignerin: «Ideen, Trends und Konzepte haben hier ein riesiges Publikum, alles wird rascher kommerzialisiert - was gut und schlecht sein kann.»
Einige Jahre lebte Boulting in Chinatown und weiss deshalb, wo hier die Perlen versteckt sind. Zum Beispiel La Pulqueria, die einzige mexikanische Bar des Quartiers. Hier wird Pulque (ein alkoholisches Getränk aus fermentierter Agave) genippt und zu R ’n’ B und Salsa getanzt.
Ein Kleid für Miss Botswana
Ein historisch wichtiger Stadtteil ist das East Village. Einst war es Mittelpunkt der lokalen Subkultur, dann Schauplatz der freien Kunst- und Musikszene, heute ist es ein gentrifiziertes Szenequartier. Mitte der 60er-Jahre organisierte Andy Warhol hier Konzerte und Ausstellungen, in den Seventies verhalfen Galerien postmodernen Künstlern wie Keith Haring und Jeff Koons zu Welterfolgen.
Noch heute finden sich kleine Erfolgsgeschichten. Angelo Lambrou, ein griechisch-botswanischer Hochzeitskleid-Designer, ist Teil einer solchen: 1999 wurde die damalige Miss Botswana zur Schönsten des Universums gekürt - in einer Robe von Lambrou! Ein Jahr später trugen alle Kandidatinnen der Miss-Universe-Wahl Kleider dieses unbekannten Designers. Der Auftrag verhalf dem damals 31-Jährigen zum Sprung nach New York; seither fertigt er in einem kleinen Atelier massgeschneiderte Hochzeitskleider. Lambrous Geschäft ist das einzige, das in der Gegend überlebte - «wohl auch, weil ich meiner Ästhetik und der klassischen Couture treu blieb» -, alle anderen Brautausstatter hat die Finanzkrise verschluckt.
Auch der 29-jährige Luke Holden blieb seiner Herkunft treu. Nach dem Studium strebte er eine Karriere als Banker an, vermisste in New York aber das Traditionsgericht seiner Heimat, die Lobster Roll aus Neuengland: Hummerfleisch in Brioche-ähnlichem Brot, beträufelt mit einer Butter-Zitronen-Sauce, dazu eine Essiggurke. 2009 knüpfte er Kontakte mit Fischern, investierte sein Gespartes in ein kleines Lokal im East Village, dekorierte es mit Hummerfallen, gelben Fischernetzen und nannte es Luke’s Lobster. Bis zu 500 Lobster Rolls à 16 Dollar inklusive Chips und Soda werden täglich verkauft; heute gibt es an der Ostküste neun Filialen. Im East Village darf man zudem das süssscharfe Wasabiglace bei Sundaes & Cones und die Vintage-Jeans bei Duo nicht missen.
Hat man genug konsumiert, gibt es noch etwas, das man in New York tun muss. Versteckt in einem kargen Innenhof im Greenwich Village - vor den Gebäuden der New York University, der sie einst geschenkt wurde - steht die 60 Tonnen schwere und 11 Meter grosse Sylvette. Eine Skulptur Pablo Picassos von 1934, kopiert und vergrössert 1967 im Auftrag des Architekten I. M. Pei. Auf dem Fleckchen Gras kann man sich zu ihr gesellen und sich ungestört der Geräuschkulisse New Yorks hingeben.