18.11.2012, Südostschweiz
Der 19-jährige Jan Neuenschwander ist auf dem Weg zum Eishockeyprofi. Dass er seit 15 Jahren zuckerkrank ist, hält ihn nicht davon ab. Neuenschwander sagt, dass Spitzensport und Diabetes keine Gegner sind.
Von Stephanie Rebonati
Foto: Nadja Simmen
Sie haben mit dem HC Davos bereits 30 Spiele in der Nationalliga A bestritten. Wie gehen Spitzensport und Diabetes Hand in Hand?
Ich habe gegenüber einem gesunden Eishockeyspieler keine physischen Nachteile. Vor den Spielen muss ich meinen Blutzuckerwert einfach so einstellen wie er auch bei normalen Menschen ist. Um das zu erreichen, muss man seinen Körper gut kennen und genau wissen, wie viel Insulin er in welcher Situation braucht. In den Drittelpausen messe ich dann den Blutzuckerwert und bringe je nach dem eine Korrektur an. Jedes Spiel ist eine neue Herausforderung, um die Insulinabgabe optimal zu kalkulieren.
Unterscheiden sich Heim- von Auswärtsspielen?
Ja. Heimspiele sind einfacher, da ich bis kurz vor dem Spiel meinen Ritualen folgen kann. Ich esse Vollkornpasta, gehe spazieren und messe den Blutzucker bis zu 15 Mal. An hockeyfreien Tagen messe ich ihn zehn Mal. Vor einem Auswärtsspiel sitzen wir lange im Car, was den Blutzucker in die Höhe treibt. Dann muss ich ganz genau einschätzen, wie viel Insulin ich brauche, da sich der Wert ja sofort verändert, sobald ich mich bewege. Über die Jahre lernt man das richtig einzuschätzen.
Ein Eishockeyspiel ist geprägt von unerwarteten Emotionen. Beeinflussen diese Ihren Blutzuckerspiegel?
Ja, die Hormone Adrenalin und Cortisol sind Gegenspieler des Insulins. Bei emotionalen Momenten wie einem Tor, einer Strafe oder einem Kampf werden diese Hormone im Körper ausgeschüttet und treiben den Blutzucker rauf.
Was machen Sie in solchen Situationen?
Mir bleibt eigentlich nichts anderes übrig als tief durchzuatmen, Wasser zu trinken und in der Pause den Blutzuckerwert zu messen und zu korrigieren.
Insulin steht auf der Dopingliste. Was heisst das für einen Profisportler mit Diabetes?
Mein Arzt hat bei Antidoping Schweiz eine Ausnahmebewilligung zu therapeutischen Zwecken beantragt. Somit sind Doping-Kontrollen kein Problem für mich.
Wie reagieren Mitspieler auf Ihre Krankheit?
Anfangs haben sie natürlich geschaut und gefragt, warum ich mir in den Finger steche. Heute ist das kein Thema mehr. Mir wäre es eigentlich lieber, wenn die Trainer nicht wüssten, dass ich Diabetiker bin. Ich möchte nicht anders behandelt werden.
Sie sind 19 Jahre jung und auf dem Weg zum Profi. Können Sie auf Siege anstossen und sie nächtelang feiern?
Das war noch nie ein Problem. Ich hatte noch nie einen richtig schlimmen Kater, weil ich ja nicht so betrunken sein darf, dass ich den Blutzucker nicht mehr messen kann. Das könnte tödlich enden.
Wie haben Sie überhaupt herausgefunden, dass Sie zuckerkrank sind?
Ich war vier Jahre alt. Ich hatte stets brutalen Durst und trank extrem viel und musste deswegen alle zehn Minuten aufs WC. Meine Tante ist Krankenschwester und war damals während den Skiferien bei uns. Sie hat die Symptome erkannt. Im Spital Davos haben wir einen Bluttest gemacht und mussten danach zum Spezialisten nach Chur. Dort hiess die Diagnose dann Diabetes mellitus Typ 1, also Jugenddiabetes.
Seit 15 Jahren müssen Sie täglich abwägen, wie viel Insulin Sie brauchen. Wie lernt man das?
Mit viel Disziplin. Am Anfang war es simpel. Ich kriegte zwei Spritzen pro Tag, durfte am Morgen zwei Scheiben Brot essen und alles andere musste ich mit einer Waage messen. Mit elf Jahren habe ich dann eine Insulinpumpe bekommen und seither darf ich soviel essen wie ich möchte, da ich die Insulinmenge manuell einstellen kann.
Wie funktioniert die Insulinpumpe?
Die Pumpe ist etwa so gross wie ein Handy und ist durch einen Katheter an der Seite meines Bauches befestigt. Ich trage die Pumpe in meiner Hosentasche. Sie übernimmt die Funktion der Bauchspeicheldrüse und gibt durch einen dünnen Schlauch, der ins Unterhautfettgewebe geht, kontinuierlich Insulin ab. Diese Methode ist einfacher als Spritzen.
Was passiert, wenn man sich die falsche Dosis Insulin verabreicht?
Das kann schlimm enden. An einem hockeyfreien Tag ging ich mit Freunden aufs Jakobshorn Skifahren. Mit dem Blutzucker war alles in Ordnung. Kurz vor Mittag wurde es mir schwindlig und meine Hände zitterten. Auf dem Sessellift habe ich meinen Blutzuckerwert gemessen und er war sehr tief. Dann habe ich ein ganzes Päckchen Traubenzucker gegessen, aber das half nicht und dann stellte noch der Lift ab. ‚Was passiert jetzt?’, habe ich mich gefragt. Ich hatte keinen Zucker mehr dabei und wenn der Lift kaputt ist, könnte das Stunden dauern, ich würde ohnmächtig werden und ins Koma fallen. Zum Glück fuhr der Lift nach einigen Minuten wieder und mir fiel ein Stein vom Herzen.
Box
Aus medizinischer Sicht gibt es keine erforschten Einschränkungen oder Nachteile für Spitzensportler mit Diabetes. Es existieren kaum Studien über zuckerkranke Athleten, obwohl es diese gibt. Michael Hackert ist ein deutscher Eishockeyspieler, der an Jugenddiabetes leidet und seit vierzehn Jahren professionell auf dem Eis steht. Bobby Clarke ist ein kanadisches Beispiel; mit den Philadelphia Flyers gewann er 1974 und 1975 den Stanley Cup. 2008 wurde der Deutsche Matthias Steiner trotz Diabetes Europameister und Olympiasieger im Gewichtheben. In den USA gibt es zig Profisportler in den Disziplinen Baseball, Football und Basketball, die trotz Diabetes erfolgreich sind. In der Schweiz erkranken gemäss dem Bundesamt für Statistik jährlich 15'000 Menschen an Diabetes. 2007 waren drei Prozent der Bevölkerung zuckerkrank, neuere Zahlen liegen nicht vor. Diabetes ist eine Stoffwechselkrankheit, bei welcher der Körper nur wenig oder gar kein Insulin produziert. Der Diabetes mellitus Typ 1 wird auch Jugenddiabetes genannt, weil er bereits in der Kindheit auftritt. Beim Typ 1 produziert der Körper kein eigenes Insulin mehr, das zur Aufnahme von Zucker und dessen Umwandlung in Energie notwendig ist. Beim Typ 2 produziert die Bauchspeicheldrüse zwar noch Insulin, jedoch kann es vom Körper nicht aufgenommen werden. In seltenen Fällen tritt während Schwangerschaften ein sogenannter Gestationsdiabetes auf, der nach der Entbindung wieder verschwindet.