06.05.2018, Sonntagsblick Magazin
Brasilianische Häftlinge haben eine Modekollektion gehäkelt, die nun in der Fashion-Welt für Aufsehen sorgt.
Von Stephanie Rebonati
Nichts deutet darauf hin, dass die Bilder in einem Hochsicherheitsgefängnis entstanden. In der Mitte des Raums fällt Tageslicht auf einen grossen Arbeitstisch, auf dem sich verschiedenfarbige Spulen, Stoffresten und skizzierte Mustervorlagen befinden. An den vier Wänden hängt ein buntes Textilgeflecht, das reliefartig in den Raum hineingreift. Die Stimmung ist kreativ – und konzentriert. Um den Tisch herum sitzen etwa zehn Männer mit gebeugten Köpfen. Sie fokussieren auf ihre Hände, die häkeln.
In der Haftanstalt Adriano Marrey in Guarulhos, eine Autostunde von São Paulo entfernt, entsteht unkonventionelle Mode für den Laufsteg. In einem Gebäude, das ursprünglich für 1200 Insassen errichtet wurde, in dem heute aber rund 2100 Männer ihre Strafe absitzen – die meisten wegen Drogen. Seit Ende 2015 trifft sich jeweils mittwochs eine Gruppe Insassen, um zu häkeln.
Ein Tag häkeln, ein Tag weniger im Gefängnis
Vor neun Monaten wurde im Hinblick auf die São Paulo Fashion Week gar auf zwei Häkeltage pro Woche aufgestockt. 40 Outfits, bestehend aus Kleidern, Tops, Jacken und Accessoires, mussten für den Laufsteg bereit sein. Das Häkelprojekt «Ponto Firme» ist eine Herzensangelegenheit des brasilianischen Stylisten Gustavo Silvestre. Der 40-Jährige ist fest davon überzeugt, dass Kreativität und Handwerk den Häftlingen neue Perspektiven jenseits der Kriminalität aufzeigen können: «Hier wird Kunst kreiert, die Türen öffnet.»
Dass er damit recht hat, beweist nicht nur sein Assistent Anderson Figueiredo, der einst innerhalb der Gefängnismauern zum Häkeln kam, sondern auch die Zukunftspläne anderer Männer, die bei ihm lernen. Der 26-jährige Felipe Lopes, seit 2014 inhaftiert, will ein eigenes Label gründen, sobald er frei ist. Wer regelmässig häkelt, dem wird pro zwölf Häkelstunden ein Tag der Freiheitsstrafe abgezogen und ein Zertifikat ausgestellt, das bei der Reintegration helfen soll.
Die São Paulo Fashion Week machte zwar international auf das Häkelprojekt aufmerksam, doch für die Häftlinge war ein anderer Anlass bedeutender: Am 4. April ging im Gefängnis eine Modeschau über die Bühne. Als Felipe Lopes das rückenfreie, blau-gelbe Kleid, das er gehäkelt hatte, am Model sah, sei er sprachlos gewesen. «Unbeschreiblich», sagte er über den Moment.
Auch im Schweizer Strafvollzug arbeiten Häftlinge kreativ und stellen zum Beispiel die Lederportemonnaies und Mützen aus recyceltem Jeansgarn des Berner Labels Oldpassion her. Sein Werbeslogan: «From prison with love».