12.12.2019, NZZ Bellevue
Wer New York City besucht, darf ein Wochenende «upstate» nicht missen. Im Hudson Valley trifft man auf pittoreske Ortschaften und kreative Köpfe, die für ein vielfältiges Angebot sorgen.
Von Stephanie Rebonati
Der vielfarbige Herbstlaub, die viktorianische Architektur, die sich entlang der vielbeschäftigten Warren Street mit jener im Federal Style abwechselt, die kleinen Antiquitätengeschäfte und Leute, die sich wie Annie Hall und andere Stadtneurotiker kleiden – das alles wirkte bei unserer Ankunft zunächst wie eine Filmkulisse. Dieser Eindruck verstärkte sich noch dadurch, dass wir an vielen charmant hergerichteten Cafés, Vintage- und Plattenläden vorbeikamen, so dass sich die Frage aufdrängte, ob wir uns in Brooklyn befänden. Einer ländlich-dörflichen Version der Brooklyn-Quartiere Carroll Gardens oder Park Slope.
Nein, wir waren im Hudson Valley unterwegs, einem weitläufigen Tal nördlich von New York City, wo Gewässer, Wälder, weite Hügellandschaften und hohe Gebirge wie die Appalachen, Adirondacks und Catskills ein abwechslungsreiches Landschaftsbild zeichnen, das auch Schweizer zu beeindrucken vermag. Das Hudson Valley ist das Zuhause von zahlreichen Kunstschaffenden, NYC-Expats, historischen Bauten und kulturellen Institutionen wie der Dia Art Foundation in Beacon oder dem Magazzino in Cold Spring.
Überraschend vielfältiges Angebot
Das Städtchen Hudson ist eine Option unter vielen, doch für Reisende, die den Big-Apple-Städtetrip um ein Wochenende «upstate» ergänzen möchten, eignet es sich besonders gut. Ab Manhattan dauert die Zugfahrt zwei Stunden, ein Auto ist vor Ort nicht notwendig.
Das Angebot ist dank kreativen Gastronominnen (Lil’ Deb’s Oasis) und Designerinnen (Elise McMahon von Like Minded Objects), alteingesessenen Secondhandshops (Five and Diamond), gestalterischen Unterkünften (Rivertown Lodge im ehem. Kino), multidisziplinären Kunsträumen (Hudson Basilica in ehemaliger Eisengiesserei), leckeren Beizen (Baba Louie’s) und einer Buchhandlung, die gleichzeitig eine Bar ist (Spotty Dog), überraschend vielfältig.
Wasser, das immer fliesst
Wer sich ausserdem für Geschichte interessiert, kommt im Hudson Valley nicht zu kurz. Hudson selbst ist nach dem britischen Seefahrer Henry Hudson benannt, der 1609 den Fluss hinauf segelte. Im 18. Jahrhundert wurde hier Walfang betrieben und in Ziegelwerke investiert, später folgte die Textilindustrie, und in der Mitte des 19. Jahrhunderts gründeten Landschaftsmaler die Hudson River School, eine Kunstbewegung, die die Trias Entdeckung, Erforschung und Besiedlung mythologisierte.
Einer ihrer wichtigsten Vertreter war Frederic Edwin Church, dessen eklektisches Riesenanwesen «Olana» ausserhalb von Hudson besichtigt werden kann. Wie überall in diesem Land lebten auch hier einst Ureinwohner: die Mohikaner, die den Hudson River Mahicannituck tauften, «Wasser, das immer fliesst».
Freier Geist
Bevor Hudson zur Filmkulisse wurde, in der wir uns während unseres Aufenthalts wähnten, war es zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Destination für Glücksspiele, Prostitution und Alkoholschmuggel. Die Aussteiger, Antiquitätenhändler und Kunstschaffenden, die in den 1980er Jahren herzogen, gestalteten den Ort so um, so dass er als utopisch, alternativ und LGBTQ-freundlich wahrgenommen wurde. Ob dieser ursprüngliche freie Geist noch vorhanden ist, ist schwer einzuschätzen: Das Städtchen richtet sich wirklich gekonnt als Filmkulisse her, was nicht bedeutet, dass wir sie nicht genossen haben.
Doch nächstes Mal tauchen wir tiefer ins Hudson Valley ein, um im Lake George zu schwimmen, wo einst Georgia O’Keeffe und Alfred Stieglitz ihre Sommer verbrachten, um in den Shawangunk Mountains zu wandern, um Ikonen der Architektur von Frank Lloyd Wright und Marcel Breuer aufzusuchen und um Bethel Woods zu besichtigen, wo 1969 das legendäre Woodstock-Festival stattfand – vor allem aber, um den energiegeladenen Big Apple-Städtetrip mit einem Wochenende «upstate» noch abwechslungsreicher zu gestalten.