24.10.2019, NZZ Bellevue
Ein neues Buch führt in die Werkstätten von indigenen Naturgarnfärbern in Mexiko und zypriotischen Weberinnen in Nikosia. «Almost Lost Arts» porträtiert 27 Kunsthandwerker, die mit dem Einsatz ihrer Hände traditionelle Herstellungsprozesse am Leben erhalten.
Von Stephanie Rebonati
Dank ihrem Hintergrund in Kunstgeschichte, Archäologie und Museumskunde war die amerikanische Autorin und Bildredaktorin Emily Freidenrich bestens ausgestattet für die Reise, die ihr zur Umsetzung ihres Buches bevorstand. Für das kürzlich erschienene «Almost Lost Arts» besuchte sie Künstlerinnen und Kunsthandwerker in deren Ateliers, die allesamt Berufe ausüben, die, so findet man bald, als immaterielles Kulturerbe geschützt werden sollten. Schliesslich geht es hier um überlieferte Bräuche, gesellschaftliche Rituale und kostbares Wissen.
Indigene Naturgarnfärber in Oaxaca, zypriotische Weberinnen in Nikosia und eine Uhrmacherin in Seattle, die sich auf mechanische Techniken vergangener Jahrhunderte spezialisiert. Die 27 Frauen und Männer, die Freidenrich versammelt, stehen entweder in einer langen Tradition eines Handwerks oder haben ein solches wiederbelebt. Der Engländer Peter Bellerby gehört zu Letzteren.
Erdkugeln für fünfstellige Beträge
Zum 80. Geburtstag seines Vaters, das war 2008, machte sich Bellerby auf die Suche nach einem Globus. Weil er keinen fand, der in Sachen Präzision, Haptik sowie Materialität überzeugte, nahm er sich der mühsamen Arbeit an, diesen selbst herzustellen. Das Unterfangen dauerte mehrere Monate, stellte die bereits vorhandene akribische Arbeitsweise des gelernten Geigenbauers auf die Probe und resultierte in einer neuen Geschäftsidee. Heute beschäftigt er in London Kartografen, Illustratorinnen, und Graveure, die im Millimeterbereich hantieren, wofür Kunden fünfstellige Beträge hinblättern.
Defekter Keramik neues Leben einhauchen
Bereits sein Urgrossvater und Vater waren Meister des kintsugi, einer japanischen Reparaturtechnik, dessen Anfänge im 15. Jahrhundert vermutet werden. Für den 31-jährigen Muneaki Shimode aus Kyoto war klar, dass er diesen Fussstapfen folgen und künftig defekte Schalen und Tassen flicken würde, indem er in peniblen Arbeitsschritten Mixturen aus Reis, Lack, Lehm und Goldstaub applizieren würde. Im Grunde macht er kaputtes Geschirr viel schöner als es zuvor war, doch es ginge um mehr als Ästhetik, so Shimode: um shogyo-mujo, die Wahrnehmung von Sterblichkeit, die in allem lebe.
Von Frauenhand gefertigte Lehmhäuser
Unter dem Begriff enjarrando versteht man das Handwerk des Lehmverputzens, das vom indigenen Volk der Pueblo seit 500 Jahren im Südwesten der USA im Hausbau praktiziert wird. Die enjarradora, die Gipserin, ist hierbei die treibende Kraft. Sie baut das Interieur, die weichen, irdenen Formen und Wände und pflegt den Lehm beständig, der zerfällt, kennt man ihn nicht gut genug.
Um die Tradition in Frauenhand zu wissen, begab sich Anita Rodriguez in den 70er-Jahren in die männliche Baubranche, um sich die Zertifikate zu holen für die eigene Baufirma. 25 Jahre lang sanierte sie Lehmarchitekturen in New Mexico und Umgebung. Heute gibt sie in Vorträgen und Workshops noch immer das Wissen ihrer Urgrossmütter und deren Mütter weiter, um sicherzugehen, dass es nicht in Vergessenheit gerät.