08.02.2016, Transhelvetica

Geschmax-Poesie

Vom Milieu in die Altstadt, vom Arbeiterquartier auf den Hof. Wir begleiteten den Gastronomen Valentin Diem auf seiner Tour durch Zürich. Auf der Einkaufsliste: Rüebli, Räuchermehl, Bienenwachs, Saibling und Cidre. Das Ergebnis: ein Gedicht. 

Von Stephanie Rebonati
Bilder: Lukas Lienhard

Valentin Diem hat sich alles selber beigebracht. Er versteht sein Handwerk als eine Art Schatzsuche. Er sagt: «Wenn man viel liest und mit den richtigen Leuten abhängt, führt eines zum anderen.» Er ist 30, ist Koch und Gastronom. Selber nennt er sich Unternehmer. Er wuchs in Küsnacht am rechten Zürichseeufer auf und studierte an der Universität St. Gallen Betriebswirtschaftslehre. Irgendwann fing er an zu kochen. Irgendwann gründete er ein Cateringunternehmen. Irgendwann eröffnete er temporäre Restaurants. Seither ergebe sich irgendwie alles. Im Herbst 2014 betrieb er das Pop-up-Restaurant Wood Food. Da ging’s um das Kochen mit Holz. Im Frühling 2015 lud er einen Monat lang zur Metzgete in der Mühle Tiefenbrunnen. Er ist unermüdlich. Er liebt seinen Beruf, wollte nie etwas anderes machen, hat nie etwas anderes gemacht. 

Die Einkaufstour, auf der wir ihn begleiteten, begann morgens um 8.30 Uhr auf dem Markt am Helvetiaplatz im Zürcher Kreis 4.

—  He Vale!
—  He tschau!
—  Schau mal die Wildenten, die ich grad gekauft habe.
—  Nice!
—  Du, wer ist dein Lieblingsgemüsehändler hier am Helvetiaplatz?
— Kommt darauf an. Knobli kaufe ich etwa immer bei den Zürchern drüben, die haben eine  französische, rosafarbige Sorte.
— Okay, danke für den Tipp!
— Tschüss.
— Grüezi! Was darf es denn sein?
— Fünf Bünde Rüebli.
— Gerne. Die sind aus Steinmaur im Zürcher Unterland. Mit oder ohne Kraut?
— Mit so zehn Zentimeter Kraut.

Letzten Sommer trug Valentin Diem einen blauen Schnauz. Momentan liest er vier Bücher gleichzeitig: je ein Kochbuch über Würste, die mexikanische sowie die thailändische Küche, und einen soziologischen Schinken mit dem Titel «Beschleunigung – Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne». Er denkt gerne und viel über Ästhetik nach. Er sagt: «Kochen ist Alltagskultur und somit das Gegenteil von elitär.» 

Nach dem Gemüseeinkauf auf dem Markt führten wenige Schritte zu André Bleikers Spezialgeschäft. Im «Andy’s Fischershop» verkauft er seit 25 Jahren alles, was man zum Fischen braucht.

—  Wuah, Sie haben eine Hausmischung!
—  Sie sind also auf der Suche nach Räuchermehl?
—  Ja, ich will einen Saibling heissräuchern.
—  Hier, Buche ist feiner, Erle würziger.
—  Buche gerne. Wofür sind denn die?
—  Das sind Perlmuttspangen für die Seeforellen scherei.
—  Und wofür sind diese Glitzerwürmer?
—  Das sind künstliche Wachsmotten aus Maisstärke. Im Jargon nennen wir sie Bienenmaden. Schauen Sie dieses Bild an, ein zwei Meter Wels, über zehn jährig.
—  Krass!
—  Wussten Sie, dass wenn auf dem Murtensee die Sonne untergeht, alle Wasservögel verschwinden? Sie wissen genau, was sonst passiert. Die Welse verspeisen sie zum Znacht. 

Im vergangenen Sommer kochte Valentin Diem in einer Scheune oberhalb des Bellevues thailändische Gerichte. Es war ständig ausgebucht. Am liebsten hört er Afrobeat aus Ghana und Nigeria, auch Jazz und Funk. Er liebt Farben und nennt seine Freunde Homies. Es gibt kein Filmgenre, das er nicht mag. Er sagt: «Manchmal habe ich Lust auf einen bildsprachgewaltigen Hollywood-Blockbuster, manchmal ziehe ich mir aber auch einen albanischen Alternativfilm rein.» Sein Lieblingsrestaurant ist momentan das Stazione Paradiso, ein alter Eisenbahnwagen am Letten an der Limmat.

Nach dem Fischerladen führte die Einkaufstour von Valentin Diem nach Wiedikon in den Quartierladen Honig Kuchen, wo die Imkerin Anna Hochreutener ihren Stadthonig verkauft.

—  Anna, wo liegt der Schmelzpunkt von Bienenwachs?
—  Zwischen 40 und 50 Grad.
—  Meiner Meinung nach liegt er bei 64 Grad.
—  Was machst du damit?
—  Eine Bienenwachssauce zum Saibling. Also ich will nur den Geschmack des Wachses in die Sauce einarbeiten. Seit wann bist du eigentlich Imkerin?
—  Vollberuflich seit drei Jahren, aber ich imkere seit ich elf bin. Bevor ich dieses Lädeli aufgemacht habe, führte ich eine Jacht-Charterfirma auf Sardinien und war Skipperin auf einem Segelschiff im Mittelmeer und in der Karibik.
—  Und jetzt bist du meine Wachs-Dealerin.

Valentin Diem sagt: «Etwas Süsses ist meistens nicht gut, wenn es nur süss ist. Aber ich liebe Desserts.» Sein Salz kauft er im Kolonialwarenladen Schwarzenbach in der Altstadt. Er nennt seine Produzenten Friends. Er behauptet, sein Tiramisu sei besser als jenes seiner Mutter. Fisch kauft Valentin Diem bei Momo Osman im Viadukt im Kreis 5. Sie sind Homies. 

— Vale, komm, lass uns ein Foto machen. Ich rahme es ein!
—  He Momo! Wie geht es deiner Familie?
—  Meine zweijährige Tochter isst schon Austern und Sashimi. Ich bin so stolz auf sie. Weisst du, ich esse nur Crevetten, Hummer und Saibling, obwohl ich seit fünf Jahren bei Braschler’s Comestibles arbeite. 
—  Ich brauche einen Saibling!
—  Schau, dieser stammt aus einer Aquakultur im Wallis. Der Saibling ist der nobelste Süsswasserfisch mit einem hohen Fettanteil, sehr elegant. Er ist nicht moosig und feucht wie etwa der Karpfen. 
—  Hast du auch Wildfang aus dem Luganer- oder Greifensee?
—  Nur auf Bestellung, mein Freund. Hier, mach ein Bild vom Fisch. So frisch und schön.

Wenn Valentin Diem Zeit hätte, würde er wieder Japan bereisen. Er ist Linkshänder und hat elf Dioptrien. Er besuchte mal einen Tierpräparator im Toggenburg, ein Gruselkabinett sei das gewesen. Sein langfristiges Ziel: «Gut kochen zu können, was auch immer das heisst.»

Die Einkaufstour endete kurz nach Mittag auf einem Bauernhof am Stadtrand, auf dem Leimbihof in Leimbach. Hier leben riesige Hasen, die Kühe muhen, man fährt eine schmale Strasse hinauf, eine Nebeldecke verschleiert den Blick auf die Zivilisation, Gleitschirmflieger üben am Hang. Valentin Diem nennt diesen Ort «pittoresk» und «ehrlich». Im Hofladen greift er nach dem Bio-Apfel-Champagner demi-sec, 100 Prozent aus Schweizer Hochstammobst. Jetzt sei die Tour beendet. Ab in die Küche, wo das Gedicht entsteht. 

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