18.05.2014, Sonntagszeitung

Das Raunen des Erdinnern

Designer Ettore Sottsass und die Gruppe Memphis kämpften gegen starre Formen.    

Von Stephanie Rebonati
Fotos: Galerie Bruno Bischofberger

Ettore Sottsass prägte die Design­geschichte des 20. Jahrhunderts und Generationen junger Gestal­ter. Er wurde wiederholt geehrt und ist in den weltweit wichtigs­ten Museen vertreten. Während sechzig Jahren, von den Fünfzi­gerjahren bis kurz vor seinem Tod 2007, zeichnete, erfand und bau­ te er: eine knallrote Reiseschreib­maschine, einen Flughafen, eine Bushaltestelle, Häuser, Eierbe­cher, Raumteiler und Sofas.

Nun erscheint eine umfangrei­che Monografie über diesen Al­leskönner, verfasst vom Schwei­zer Kunsthistoriker Phillippe Thomé. Das Buch zählt 500 Sei­ten, ist farbig und prall wie Etto­re Sottsass’ Werk selbst. Er schuf ein schrill­buntes Œuvre von Bauten und Alltagsgegenständen. Er provozierte und gefiel. Er machte die schweren, grauen Ma­schinen der Nachkriegszeit leicht und sexy, lud sie emotional auf. Er warf mit Farbe um sich, vermähl­te einander fremde Materialien und gründete 1981 die Gruppe Memphis – ein Kollektiv, das sich radikal gegen die starren Formen des Funktionalismus stellte, um einen Regenbogen in die Welt zu malen, einen Comic­artigen, grin­senden.

Sottsass entwarf Dinge, die alles infrage stellten – vor al­lem aber das gängige Verständnis von Schönheit und Ästhetik. Er brach mit allen Konventionen und beherrschte die Vielfalt. Er baute Häuser, die wie aufeinandergesta­pelte Legobausteine aussehen. Er kreierte Ohrringe und Colliers, Kunst als Schmuck. Er formte Va­sen und Behälter aus Glas und Keramik, betörend skulpturale Objekte. Er entwickelte eine Serie von Regalen aus Kunststoff lami­nat, wild bemustert, farblich überreizend – für die einen ein Skandal, für die andern die reine Offenbarung. Sottsass kombinier­te teuer mit billig, weich mit kan­tig, Aluminium mit Stoff, Pastell mit Neon. Er schuf ein eklekti­sches Universum, erfand eine neue Formensprache, er malte die Welt farbig. Es war sein Versuch, sie zu verstehen.

Sottsass wollte Code-frei sein, Anti-Design popularisieren

Als Kind pflückte er Butterblu­men und Himbeeren, hielt die Füsse in den kühlen Bergsee. Als Mann verliebte er sich in die Far­benpracht Indiens, in die massi­ven Klippen, die in die Meere ra­gen, in die raue Abgelegenheit spanischer Dörfer. Als Greis, der Schnauz weiss, das dünne, graue Haar zu einem Zopf geflochten, sass er auf seiner Veranda auf der italienischen Insel Filicudi und malte. Oft schlief er draussen, um dem Raunen des Erdinnern zu lauschen. Und vielleicht, um zum Ursprung zurückzufinden. Er wollte Code­frei sein, Anti­-De­sign popularisieren, die Rationa­lität nicht absolut setzen. «Wie ein Kind, aber nicht infantil», sagte er 2002 im Dokumentarfilm «Der Sinn der Dinge».

Stift, Papier und Kamera, immer dabei. Sottsass dachte durch seine Hände, ent­warf unermüdlich, weil «Gestal­tung die Aufgabe hat, Dinge zu kreieren, die das Glück anziehen». Mit seinen klobig­farbigen Mö­beln bringt er die Leute bis heute zum Lachen. Mit den düsteren, archaischen Keramiken offenbart er seine schlaflosen Nächte. Mit seinen surrealen Glasskulpturen – wunderbar grässlich, mit jeder Einrichtung schlichtweg unver­einbar – empört er noch immer. Mit seinen verwunderten Knopf­augen und dem kleinen Zopf ent­zückt er die Nachwelt.

Und die Monografie, das neue Buch über Ettore Sottsass, ist Zeugnis all die­ser Dinge und macht sich nicht nur in einem dekorativ verwinkel­ten «Carlton»-­Regal gut. Dieses und rund 150 weitere Alltagsge­genstände der Memphis­ Gruppe sind derzeit übrigens in der Dixon Gallery in Memphis, Tennessee, in einer Ausstellung zu sehen.

Phillippe Thomé, «Sottsass», Phaidon, 150 Franken 

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