08.04.2016, Noma Magazin

Ein Gedicht, das fliegen kann

Der Schweizer Architekt und Industriedesigner Thomas Horvath hat den leichtesten Drachen der Welt konstruiert. Das Spielzeug wiegt gerade einmal elf Gramm – und ist das Ergebnis einer technischen Meisterleistung. Ein Porträt eines konstruktiven Poeten.

Von Stephanie Rebonati
Bilder: Noë Flum

Ist das für Sie Sport, das mit den Drachen?

Nein.

Was ist es dann?

Es ist ein Spiel. Punkt.

Ein Spiel?

Eindeutig.

Erzählen Sie mir davon.

Es hat etwas Kontemplatives. Beobachten, was der Drachen macht, was die Luft macht.

Ihre Drachen brauchen doch keinen Wind.

Wind nicht, aber ein Hauch wie am Meer ist immer schön.

Sagen Sie Leine oder Schnur?

Ich sage Kabel. Die Spule liegt übrigens am Boden. Nicht in der Hand. Mit der einen Hand gibt man dem Drachen gelegentlich Impulse.

Ist das wie Dirigieren in der Musik?

Das habe ich so noch nie gehört. Meine Drachen haben wenig mit Kontrolle zu tun. Es geht vielmehr um Loslassen.

Wie meinen Sie das?

Bei herkömmlichen Lenkdrachen müssen die Kabel immer gespannt sein, sonst kommen sie runter. Meine Drachen wollen in die Höhe. Das Kabel muss ganz ruhig am Boden und in der einen Hand liegen. So kann ich gezielt Impulse geben, wenn der Drachen sie braucht.

Wann braucht er sie?

Wenn er kreisen, eine Kante schneiden oder nahe am Boden gleiten will.

Nennen Sie sich Drachenbauer oder Drachenkonstrukteur?

Ich weiss gar nicht.

Also im Grunde sind Sie Architekt und Industriedesigner.

Das war ich mal. Ich bin Erfinder und Unternehmer.

Thomas Horvath hat den leichtesten Drachen der Welt konstruiert. Er wiegt elf Gramm und heisst «I’ll be back». Der Titel stammt aus «Terminator II», wo Arnold Schwarzenegger auf dem Polizeiposten nicht beachtet wird. Er blickt dem Polizisten tief in die Augen und sagt: «Ich komme wieder». Als er das tut, fährt er mit einem monströsen Geländewagen die Wache platt. Das macht Thomas Horvaths synergetischer Nullwind-Drachen natürlich nicht. Er ist ganz leise. Wenn er so daliegt, wirkt er wie ein ruhender Falter. Sein hauchdünnes, farblos transluzides Segel schimmert wie Perlmutt. Er hat eine Spannweite von einem Meter und kommt auf einem grossen Arbeitstisch fast schon klein vor. Doch es ist gerissen, dieses vermeintlich rein ästhetische Objekt. Es ist Hightech pur. Um es zu konstruieren, baute Thomas Horvath seinen Schneideplotter, seine Drehbank, Näh- und Umspulmaschinen um. Er installierte Speziallampen, kaufte Brillen mit erhöhter Dioptrie, feinste Werkzeuge, die es ermöglichen, im Millimeterbereich zu arbeiten. Der 55-jährige Zürcher baut jeden Drachen selber, «Türe zu, Telefon ab», denn «sie lassen sich nicht wie ein Leintuch nähen». Die Toleranz in der Symmetrie: weniger als ein halber Millimeter. Höchste Präzision und Konzentration sind gefragt.

Das Gerüst des Drachens wird aus exakt zwei Metern Karbonstab gebaut. Ein Erwachsener kann drauftreten, ein Hund reinbeissen, die eineinhalb Millimeter Stäbe brechen nicht. Das Segel besteht aus hauchdünnem, farblosem Spectra-Laminat, einem extrem leichten Polyethylen aus Nordamerika. Spectra ist die Marke der Rohfasern, die als kristalline Struktur aufgebaut sind und eine niedrige Dichte aufweisen. Deshalb gelten sie als die dehnungsärmsten Fasern überhaupt und lassen sich nicht zerreissen. Ein wichtiger Vorteil, denn das Segel wird leicht übersehen, wenn es auf dem Boden liegt. An Nase, Kiel und an den Flügelspitzen und Leitkanten wird das Flugobjekt durch symmetrisch geschnittene schwarze Polyester-Elemente namens Icarex eingefasst. Ganz wichtig: hier wird genäht und nicht geklebt. Denn hier geht es nicht um ein Massenprodukt, sondern um Qualität, Nachhaltigkeit und Minimalismus – made in Switzerland. «Dann ist es fast schon echter Minimalismus», sagt Thomas Horvath und kehrt seinen Drachen um. Er deutet auf die Waage. Sie besteht aus ummantelten Spectra-Schnüren, die in Kanada nach seinen Vorgaben geflochten werden. Die Waage ist das Interface zwischen Drachen und Kabel. 

Die Konstruktion interpretiert das «Tensegrity»-Prinzip des amerikanischen Konstrukteurs Richard Buckminster Fuller: Die Struktur steht unter Spannung (tension) und alle Teile sind miteinander verbunden (integrity). Das Prinzip macht den Flugkörper elastisch und trotzdem stabil. So wird der «I’ll be back spectra laminate edition» konstruiert. Der leichteste Drachen der Welt. Elf Gramm. Eine Kombination aus Hightech und Poesie. In der Luft ist er agil und gleichzeitig langsam. Nach einem Impuls, einem Ziehen des Drachenfliegers entschleunigt er sich sofort wieder und gleitet weiter, als ob nichts geschehen ist. Er kann in aller Ruhe vor sich herschweben und kurz vor dem Boden wieder steil nach oben zielen. Auch in Innenräumen – besonders diese Fähigkeit fasziniert den Betrachter.

Als Architekt und Industriedesigner arbeitet Thomas Horvath nur noch, wenn Projekte an ihn herangetragen werden, wenn er keine Akquise, keine «Wettbewerbe ins Blaue hinaus» machen muss. Heute lebt der Unternehmer von seiner Erfindung. Er sagt es während dem Gespräch immer wieder: «Das hier ist alles auf die Spitze getrieben» und meint damit «genauer geht es gar nicht». Er wirkt nicht eingebildet, wenn er das sagt. Vielmehr steht hier einer im karierten Hemd, mit Leserbrille auf dem Kopf und Zigarette im Mundwinkel, und sagt offen, dass er fasziniert ist von seinem Beruf. Er baut seit 15 Jahren Drachen. Er skizzierte, tüftelte, probierte aus und verwarf. Anfang dieses Jahres lancierte er mit dem «I’ll be back» aus Spectra-Laminat, das wie Perlmutt schimmert, das so kostbar und verwundbar anmutet, das aber schier unzerstörbar, ja genial ist, den leichtesten Drachen der Welt.

Ist der «I’ll be back» noch optimierbar?

Ich finde keine Methode, um ihn genauer zu machen. Er ist präzis wie meine Rolex Submariner. Ende der Durchsage.

Wie erklären Sie jeweils, wie er fliegt?

In Workshops sehe ich immer wieder, wie die Leute verkrampft dastehen und das Kabel umklammern. Ich rate ihnen, loszulassen und dem Drachen einfach zuzusehen. Das fällt uns in der westlichen, gestressten Welt schwer.

Bauen Sie deshalb Drachen?

Vielleicht.

Inwiefern dienen Ihre Drachen der Gesellschaft?

Es geht ums Entschleunigen. Slow down und so.  

Was sind das eigentlich für lauter Titanrahmen und Radsätze, die hier rumstehen?

Ich fahre Velo als Hobby. Auf dem Uetliberg und im Engadin. Dieses Vorderrad etwa, ein Crossmax Serie 2.2 mit Flachspeichen aus Aluminium wiegt ein bisschen mehr als 600 Gramm. Damit fahre ich den Uetliberg-Trail runter. Wahnsinn, was?

Thomas Horvath: Der Designer und Architekt erfindet, entwickelt und produziert Nullwinddrachen seit 2000 und vertreibt die extrem leichten Flugobjekte über das Drachen­labor in Zürich. Es entstand in Thomas Horvaths Architektur­ und Industrial ­Design-Atelier, das er 1994 gegründet hat.

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Diese Geschichte wurde auch auf Englisch übersetzt und veröffentlicht.

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