01.11.2016, Aargauer Zeitung

Wenn das Hirn brennt

Dank Susannah Cahalan landen Tausende Patienten nicht mehr als ungelöste Fälle in der Psychiatrie. Dass die Journalistin wieder lesen und schreiben kann, ist ein Wunder – ihre Autobiografie wurde nun verfilmt.

Von Stephanie Rebonati, New York

Susannah Cahalan strahlt, als sie den Eingangsbereich des News Corporation Gebäudes an der 6th Avenue in New York City betritt – Zuhause der Mediengiganten Fox News, «The Wall Street Journal» und «New York Post». Sie trägt einen bunten Rock, ein Jeanshemd, ist dezent geschminkt und hat ihr blondes Haar zu einem Dutt zusammengebunden. Sie ist hübsch, jung, voller Energie. Dass sie heute wieder als Journalistin arbeitet, dass sie wieder ihrem Beruf als Buchrezensentin beim Boulevardblatt «New York Post» nachgeht, dass sie wieder sprechen, schreiben und lesen kann, grenzt an ein Wunder. 2012 erschien ihre Geschichte in Buchform, und vor kurzem feierte die von Hollywoodstar Charlize Theron produzierte Verfilmung am Filmfestival in Toronto Weltpremiere. Es ist eine Geschichte, die einen nicht mehr loslässt. 

«Ich habe noch nichts gegessen. Lass uns schauen, ob es noch was gibt», sagt Cahalan als sie die Glastür zur Cafeteria aufstösst. Es ist vier Uhr nachmittags, Ende Oktober, in Manhattan scheint die Sonne bei knapp 20 Grad Celsius. Sie überlegt nicht lange, greift nach einer Schale mit Tomaten und Thunfisch und bestellt einen Apfelsaft. Sie sagt: «Ich teile mein Leben heute in vier Abschnitte ein. Vor und während der Erkrankung, Genesung und jetzt.» Es ist schwer zu glauben, dass diese quicklebendige Person, die einem in diesem Wolkenkratzer gegenübersitzt und im Salat stochert, eines Tages an ein Bett gebunden in einer Klinik aufwachte und sich an nichts erinnern konnte. Sie fügt hinzu: «Und ich teile die Welt nicht mehr in Schwarz und Weiss ein.»

Als Susannah Cahalan 24 Jahre alt war, damals bereits Reporterin bei der «New York Post», spürte sie eines Tages ihren linken Arm nicht mehr. Sie dachte, sie sei von Bettwanzen gebissen worden, eine weitverbreitete Plage in New York. Sie wurde von der Idee besessen, dass ihre Studiowohnung von den kleinen Viechern befallen war. Sie putzte und putzte und wurde paranoid. Insgeheim fragte sie sich, ob sie übermüdet sei, gestresst vom Job, von der neuen Beziehung, die sie kürzlich eingegangen war. Eines Nachts erlitt sie den ersten epileptischen Anfall. Sie gab ein animalisches Stöhnen von sich, weisser Schaum quoll aus ihrem Mund und Blut, weil sie in ihre Zunge gebissen hatte. Ihr Freund legte sie in die Seitenlage und rief den Notruf 911.

Was folgte, war eine siebenmonatige Irrfahrt, ein Höllentrip. Trotz zig Abklärungen und Medikamenten verschlechterte sich ihr Zustand zunehmend. Sie halluzinierte, erlitt Psychosen und Panikattacken. Die junge Frau hörte Stimmen und wurde schizophren, ja verlor den Verstand. Sie konnte keine Sätze mehr bilden und begann unverständlich zu sprechen. Später wird sie in ihrer Autobiografie «Brain on Fire» eine steile These formulieren: «Wie viele Menschen wurden wohl im Verlauf der Geschichte exorziert und als Hexen verbrannt, weil sie dieselben Symptome aufwiesen wie ich?». Eine schlaue These, denn die Krankheit Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis, an der Cahalan 2009 erkrankte, wurde erst 2007 entdeckt. Doch die Medizin ist sich sicher, dass diese schwere Autoimmunerkrankung seit Menschendenken existiert.

Der NMDA-Rezeptor ist ein Protein, das bei der Signalübertragung im Gehirn eine wichtige Rolle spielt. Erkrankt man an Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis bildet der Körper aus noch unerklärlichen Gründen einen Antikörper gegen dieses Protein, woraufhin sich die Hirnregion entzündet. Als ein syrisch-amerikanischer Neurologe endlich erkennt, woran Cahalan leidet, erklärt er ihren Eltern: «Gehirn und Immunsystem Ihrer Tochter bekämpfen sich.» Cahalan war weltweit die 217. Person, die diagnostiziert wurde. Mit ihren damals 24 Jahren passte sie perfekt in die Statistik: 80 Prozent der Erkrankten sind Frauen, und das Durchschnittsalter liegt bei 23 Jahren. Etwa 75 Prozent überleben mit leichten, 21 Prozent mit schweren neurologischen Schäden, vier Prozent sterben. 

Als Cahalan 2009 in der Epilepsieklinik aufwachte, konnte sie sich an nichts erinnern – und das kann sie bis heute nicht. Sie setzte ihr journalistisches Handwerk ein, um ihre eigene Geschichte zu rekonstruieren, um ihre Artikel, Vorträge und Memoiren zu verfassen. Mitunter dank ihr sind es heute mehrere tausend Patienten mit Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis, die nicht als ungelöste Fälle in der Psychiatrie landen, sondern die richtige Behandlung erhalten – etwa Chemotherapie, Blutplasmatrennung und Cortisongabe. Cahalan wurde zur Identifikationsfigur und Anlaufstelle, wovon sie sich distanzieren musste. Sie sagt: «Mein Buch kann Leuten helfen, aber ich musste dieses Kapitel abschliessen, um weiterzuleben».  

Buch: «Brain on Fire: My Month of Madness», Susannah Cahalan, Simon & Schuster, 2013, Film: «Brain on Fire», 2016, www.brainonfiremovie.com (noch unbekannt, wann der Film in Schweizer Kinos anläuft).

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